Unter Göttern und Dämonen: Über die künstlerische Zusammenarbeit von Friedrich Dalsheim, Victor von Plessen und Walter Spies
Vergessen und verstaubt – so lagerten jahrzehntelang Filmrollen aus hochentzündlichen Nitrozellulosefilm in einer Holzkiste im Pferdestall und im Keller des Herrenhauses von Gut Wahlstorf, dem Wohnort des auf Gut Sierhagen aufgewachsenen Forschungsreisenden, Ornithologen, Malers und Filmemachers Victor Baron von Plessen (1900-1980). 2012 schlug Sophie von Plessen Alarm und benachrichtigte daraufhin Martin Koerber, Leiter des Audiovisuellen Erbes der Deutschen Kinemathek in Berlin. Martin Koerber reiste nach Wahlstorf, um den Zustand und die Qualität der Filmrollen zu überprüfen. Es handelte sich um Kopien der von Victor von Plessen koproduzierten ethnographischen Dokumentarfilme mit Spielfilmhandlung Die Insel der Dämonen (1933) und Die Kopfjäger von Borneo (1936). Auf dem Dachboden des Herrenhauses in Wahlstorf fanden sich zudem mehrere Metallkoffer zum Transport der filmischen Ausrüstung und Überseekoffer sowie ein verschlossener Lederkoffer, die dort unbeachtet die Zeiten überdauert hatten. Nachdem ein Schlüsseldienst den in rotem Samt ausgeschlagenen Lederkoffer öffnen konnte, offenbarte sich ein Konvolut an Dokumenten, Briefen und Fotos, die zu den Filmen gehörten. Darunter ein zentraler Brief, den Plessen Ende Dezember 1945 auf der Suche nach dem Negativ-Material von Die Kopfjäger von Borneo an die Ufa (Universum-Film AG) in Berlin geschrieben hatte: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie daran denken würden, dass im Vorspann des Filmes unbedingt der Name Dalsheim erwähnt werden muss. Im Dritten Reich war es ja nicht möglich, aber jetzt ist es unbedingt notwendig. Leider ist auch er eines der Opfer dieser grauenhaften Zeit gewesen, aber auf diese Art und Weise kann man wenigstens sein Andenken bewahren. Er zeichnet für Regie und mit mir zusammen für das Manuskript. Soviel ich erinnere, wurde der Film als Plessen-Film bezeichnet, mit mir als Expeditionsleiter. Jetzt müsste nur noch hineinkommen: Regie und Manuskript: Dr. Friedrich Dalsheim.“
Die Recherche nach der Verbindung von Plessen und Dalsheim führt zurück nach Berlin in das Jahr 1930, wo Plessen 1920 ein Studium der Malerei bei Wilhelm Blanke (1873– 1936) begonnen hatte, gefolgt von einer Ausbildung als Tierpräparator bei dem Zoologen Professor Erwin Stresemann (1889–1972), der ab 1921 Leiter der Ornithologischen Sammlung des Zoologischen Museums Berlin (heute Museum für Naturkunde) war. 1924 trat Plessen im Auftrag von Stresemann zu seiner ersten Expedition in den Malaiischen Archipel an. Überraschenderweise gelang es ihm, den Bali-Star, eine 1910 von Stresemann zuerst entdeckte, sehr seltene und heute fast ausgestorbene Vogelart, in einem unerforschten Habitat wieder aufzuspüren. Damit verschob der 24-jährige Plessen auf seiner ersten Expedition die nach dem Zoologen Alfred R. Wallace benannte Wallace-Linie, die die asiatische und australische Flora und Fauna trennt, um vier Kilometer nach Westen. Letzte Station seiner Reise war Yogyakarta, wo Plessen den seit 1923 in Indonesien (damals Niederländisch-Indien) lebenden Ausnahmekünstler Walter Spies (1895–1942) kennenlernte. Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine enge Freundschaft und ein reger künstlerischer Austausch, insbesondere hinsichtlich der Malerei.
Victor von Plessen, der fließend malaiisch sprach, lernte 1930 in Berlin den Filmemacher Friedrich Dalsheim kennen. Dalsheim hatte gerade sein filmisches Debut Menschen im Busch (1930) in Koregie mit der Berliner Ethnologin Gulla Pfeffer (1897-1967) in Togo realisiert hatte. Plessen erinnert sich: „1930 rief mich Dr. Dalsheim in meinem Atelier an und fragte, ob ich Lust hätte, einen Film mit ihm in Bali zu drehen. Ich [...] willigte sofort ein, natürlich ohne zu wissen, was es bedeutet, überhaupt einen Film zu drehen. Irgendwie hatte er erfahren, daß ich Bali gut kannte und lange in Indonesien gelebt hatte.“ Kurze Zeit später brachen Victor von Plessen und Friedrich Dalsheim nach Bali auf, um ihren ersten gemeinsamen Film zu drehen: Die Insel der Dämonen. Indonesien war damals holländische Kolonie, genannt Niederländisch-Indien. Erst 1945 wurde Indonesien unabhängig.
Plessen fungierte als Expeditionsleiter und Koproduzent, Dalsheim als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Koproduzent. Walter Spies übernahm eine wichtige Rolle als künstlerischer Berater, vermittelte entscheidende Kontakte zur balinesischen Gemeinschaft, geeignete Drehorte und bot dem Filmteam eine Unterkunft. Vor allem aber arrangierte er die balinesischen Tänze, insbesondere den Sanghyang Dedari und den nur von Männern getanzten Kecak. Spies hatte 1923 Europa verlassen, siedelte zuerst nach Java über und zog 1927 nach Bali, um dort sein Leben lang – fasziniert von der Vielfalt der virtuosen künstlerischen Schaffenskraft – unter den Einheimischen zu leben und die balinesische Kultur, Musik und Tänze intensiv zu studieren. In Ubud errichtete er ein malerisches Anwesen, das sich zum internationalen Treffpunkt von Künstlern, Wissenschaftlern, Aristokraten und vermögenden Privatpersonen entwickelte, darunter Charlie Chaplin, die Schriftstellerin Vicki Baum (Liebe und Tod auf Bali), der Künstler Miguel Covarrubias, der Filmemacher André Roosevelt, die Tanzforscherin Beryl de Zoete, die Anthropologen Margaret Mead und Gregory Bateson und die Woolwortherbin Barbara Hutton. In den frühen 1930er Jahren brach in Bali ein gewaltiger Tourismusboom aus. Warum Bali als das neu entdeckte „letzte Paradies“ wahrgenommen wurde, hing einerseits von der einzigartigen Vielfalt, Intensität und Energie des künstlerischen Schaffens und der späten Kolonialisierung ab, andererseits von der konsequenten Vermarktung durch Reise- und Transportunternehmen, insbesondere der niederländischen Reederei Koninklijke Paketvaart-Maatschappij (KPM) sowie der medialen Verbreitung der Bali-Legende durch Fotografie und Film.
Die Insel der Dämonen (1933) stellt den Alltag der mit der Natur, ihren Göttern und Dämonen in Harmonie lebenden balinesischen Dorfgemeinschaft dar und erzählt die Liebesgeschichte von Wajan, Sohn der Dorfhexe, und Sari, Tochter des reichen Kaufmannes Lombos, die für ihre Liebe dämonische Kräfte überwinden müssen. Im Zentrum steht der Dämonenglaube der Balinesen, dazu notiert Victor von Plessen: „Wir sind gewohnt, uns unter Bali ein glückliches, umbeschattetes Paradies vorzustellen. In Wirklichkeit ist zwar das Leben des balinesischen Volkes glücklich in der vollkommenen Harmonie von Mensch, Natur und Göttern, aber auch dieses Leben hat seine Sorgen und Ängste. Aus der Furcht vor den Naturgewalten rührt der Glaube an böse Dämonen her, die als Naturgewalt oder gar in Menschengestalt Land und Volk heimsuchen. Das Wirken eines solchen menschgewordenen Dämons, einer balinesischen Hexe - Leak - soll der Film zur Anschauung bringen.“
Nach dem Vorbild von Robert J. Flahertys Nanook of the North (1922) strebt Die Insel der Dämonen eine transkulturelle Kollaboration an, um größtmögliche ethnographische Authentizität zu gewährleisten: Erst aus der Kenntnis der Lebensart und im Austausch mit den balinesischen Dorfbewohnern wurde das Drehbuch an Ort und Stelle in monatelanger Arbeit von Dalsheim mit Plessen und Spies sowie einem Hindupriester und mit Unterstützung des indigenen Fürsten entwickelt. Allein balinesische Laiendarsteller wurden besetzt. Das Besondere an dieser Herangehensweise erkannte die jüdische Filmkritikerin Lotte Eisner (1896-1983) sofort: „Fern von der großen Straße haben Victor Baron von Plessen, der Expeditionsleiter, und Dr. Dalsheim, Regisseur und Autor, das echte Bali gesucht – und gefunden. [...] In diesem Film sind die Menschen keine Staffage für irgendeine Atelier-Fabel, sie dürfen sich selbst spielen, ihr Dasein atmen. Kein weißer Star wird auf braun geschminkt, keine Verfälschung von Gefühlen findet statt. Die Eingeborenen halfen selbst, die Geschichte ihres Films zu schreiben. Überirdisches, Dämonisches spielt selbstverständlich für sie hinein, die immer noch Dinge erleben zwischen Himmel und Erden, die unsere Schulweisheit nicht zu lösen vermag.“
Nach acht Monaten auf Bali traten Dalsheim und Plessen mit 15 000 Metern Film die Rückreise zur Postproduktion in Berlin an. Als Die Insel der Dämonen am 16. Februar 1933 als erster Film über eine fremde Kultur nach der NS-Machtübernahme Premiere in Berlin feierte, wurde Dalsheim trotz seiner jüdischen Herkunft noch in den Credits genannt. Wenige Monate später erhielt er Berufsverbot und wurde von deutschen Produktionen als „Nichtarier“ ausgeschlossen.
Im Ausland konnte Dalsheim noch zwei semidokumentarische Filme drehen, zuerst Palos Brautfahrt (1934) mit Knud Rasmussen in Ostgrönland, dann erneut mit Victor von Plessen Die Kopfjäger von Borneo (1936). Als dieser Film abgedreht war, durfte Dalsheim in keiner Funktion mehr genannt werden, sofern der Film im Deutschen Reich zur Aufführung gelangen sollte. Die Mitarbeit am Schnitt wurde ihm trotz zahlreicher verzweifelter, brieflicher Appelle konsequent verwehrt. Als Die Kopfjäger von Borneo am 4. August 1936 in Berlin mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, befand sich Dalsheim längst im Schweizer Exil. Wie so viele Emigranten aus Nazi-Deutschland wollte auch Dalsheim in die USA zu emigrieren, er scheiterte jedoch an fehlender Unterstützung und nahm sich, finanziell ruiniert und verzweifelt, im August 1936 in Zürich das Leben. Knapp zwei Wochen nach der Filmpremiere.
Victor von Plessen brach 1937/38 zu seiner letzten Expedition nach Nusa Penida auf und übernahm 1938 das schleswig-hosteinische Gut Wahlstorf. Bis heute bezeugt im Herrenhaus seine ethnographische Sammlung aus Indonesien, die vor allem während der Filmproduktionen auf Bali und Borneo entstanden ist, sein vielseitiges Leben und seinen offenen Blick im kulturellen Austausch mit Indonesien.
Ende der 1930er Jahre verschärfte sich auch das gesellschaftspolitische Klima in Niederländisch-Indien. Die Christelijke Staatskundige Partej forderte härtere Maßnahmen der Kolonialregierung gegen Homosexuelle. Walter Spies wurde angeklagt, Sex mit Minderjährigen gehabt zu haben, Anfang 1939 festgenommen und zu einer achtmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande überfiel, rächten sich diese und verhafteten 2500 Deutsche in ihrer Kolonie Niederländisch-Indien, darunter Spies. Im Zuge des Angriffs von Pearl Harbor im Dezember 1941 der mit Deutschland verbündeten Japaner sollten die Gefangenen per Schiff abtransportiert werden. Erst am 18. Januar 1942 lief das dritte Schiff, die Van Imhoff mit 478 Deutschen und 110 Holländern an Bord, darunter Spies, von Sumatra nach Ceylon aus. Infolge eines Bombardements durch einen japanischen Kampfjets vor der Insel Nias kam Spies mit 411 weiteren deutschen Gefangenen ums Leben, während der Kapitän und die Besatzung der Van Imhoff sich in Rettungsbooten in Sicherheit gebracht hatten.
Diese dramatischen Fakten um Friedrich Dalsheim und Walter Spies rahmen die Produktion von Die Insel der Dämonen und Die Kopfjäger von Borneo. Der dazugehörige eindrückliche Briefwechsel aus dem Dachbodenfund in Wahlstorf war ausschlaggebend für die Realisierung des Buches Friedrich Dalsheim: Ethnographie – Film – Emigration, das ich nach langer internationaler Archivrecherche 2022 in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek, Berlin veröffentlichen konnte. Ein Buch, das sich dem Leben und Werk eines vergessenen Pioniers des ethnographischen Films widmet. Ein Versuch, Dalsheims Credits und damit seinen Platz in der Filmgeschichte wiederherzustellen. Fast 100 Jahre später ist sein Ansatz einer transkulturellen Kollaboration immer noch bemerkenswert aktuell. Dank der Deutschen Kinemathek konnten Die Insel der Dämonen (1933) und Die Kopfjäger von Borneo (1936) umfassend restauriert und digitalisiert werden.
©Louise von Plessen